Artikel ID: 20           Kategorie: Kunst


Zur Ausstellung "Moderne Zeiten", Beckmann und die  Brücke zum Unsichtbaren.

Diese Ausstellung, die zwei Weltkriege umfasst und von grandiosen Erfindungen begleitet ist, zieht zur Zeit zahllose Besucher an. Machen wir uns die Vorläufer dieser modernen Zeiten bewusst. Die industrielle Revolution durch die Erfindung der Dampfmaschine durch Watts 1765 veränderte die Welt. Die Städte wuchsen rasant, da immer mehr Menschen in den Fabriken Arbeit fanden. Die Mobilität nahm zu. Die erste Eisenbahn fuhr in Deutschland 1835. Der Individualverkehr mit Kutsche und Pferd wurde nach und nach abgelöst, denn Otto baut 1876 den Viertakt-Benzinmotor. Benz konnte 1886 seinen ersten Motorwagen bauen. Diesel erfindet 1893 den Rohölmotor. Lilienthal machte 1891 erste Flugversuche, den ersten Zeppelin gab es 1908 und schon 1927 überfliegt Lindberg den Atlantik. Edison erfand 1879 die Glühbirne und ermöglichte elektrisches Licht als Ablösung von Kerosinlampen und Gaslicht, was die gesellschaftlichen Möglichkeiten total veränderte. Hinzu kam die Veränderung der Kommunikationsmöglichkeiten. Fotografie und die Telegrafie von Morse waren schon länger etabliert. Doch dann baut 1861 Reis das erste Telefon, Bell baut es in den USA 1876 und in Deutschland wir es 1880 eingeführt. Hertz entdeckt 1887 elektrische Wellen und ermöglicht das Radio, dessen erste Musikübertragung 1904 erfolgt. Einen ersten Farbfilm gibt es 1909 und die ersten Anfänge von Fernsehen sind möglich 1928.

All dies wurde begleitet mit einer Veränderung der Weltanschauung durch die Physik. Bisher folgte man dem Maschinen-Modell von Descartes, der die Welt und auch den Menschen als ein Uhrwerk sieht, das sich nach bestimmten Naturgesetzen bewegt. Danach war die gesamte Materie aufgebaut aus kleinen festen unteilbaren Körpern, den Atomen von Demokrit. Diese Auffassung hatte die oben benannten Erfindungen erst möglich gemacht.

Doch dieses Weltbild gerät ins Wanken, denn Röntgen entdeckt 1894 die Röntgenstrahlen, Becquerel 1896 die Radioaktivität des Urans, Rutherford 1897 die Kernphysik, beide Curie entdecken 1898 das Radium und genau passend zur Jahrtausendwende 1900 begründet Max Planck seine Quantentheorie, Einstein 1905 seine Relativitätstheorie als Konsequenz der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. 1916 beschreibt er die allgemeine Relativitätstheorie. Im gleichen Jahr beschreibt Niels Bohr das Atom als Planetenmodell. Atome sind danach keine festen unteilbaren Partikel mehr, sondern haben einen winzigen Atomkern, um den die Elektronen kreisen. Der riesige Raum dazwischen besteht nur aus Energie. Die ehemals feste Welt begann sich aufzulösen.

In diese turbulente Zeit um die Jahrhundertwende wurden bedeutende Künstler hineingeboren:

Beckmann
Kandinski
Marc
Macke
Nolde
Schmidt-Rottluff
Kirchner
Müller
Munch
Hodler
Lehmbruck
Kokoschka
Pechstein
Heckel
Grosz
Dix
Schad
Klee
Feininger
Gris
Dali
Ernst
Picasso
Magritte
Leger
Belling
Baumeister
Nay

Diese sich rasant verändernden "Modernen Zeiten" bieten mit all ihren Neuerungen den Hintergrund zu der Ausstellung der Berliner Nationalgalerie in der Kunsthalle Würth. Sie umfasst folglich die Geistesströmungen des Expressionismus, des Dadaismus, die neue Sachlichkeit, den Bauhausstil, den Kubismus und den Surrealismus.

Ich habe mir aus dem Reigen der Künstler Max Beckmann ausgesucht, dessen Lebensauffassung mir nahe ist. Ein paar Worte zu seinem Leben sind wichtig, um sein etwas nachdenkliches Naturell zu verstehen. Geboren wird er 1884, mit elf Jahren verstirbt sein Vater. Mit 16 geht er auf eine Kunstschule in Weimar und lernt dort Minna Tube kennen. Erste Erfolge mit Landschaftsmalereien und besonders durch den Beitritt zur Berliner Sezession mit dem Bild "Männer am Meer" 1905. Als 1906 auch noch seine Mutter stirbt, da ist er 22, heiratet er Minna und sie bekommen 2 Jahre später einen Sohn. Beckmann hat also in jungen Jahren zwei Tode zu verkraften und ist gezwungen sich mit Leben und Tod auseinander zu setzen.

Betrachten wir die aufkommende Abstraktion, um Beckmanns Anliegen zu verstehen. Durch die Erkenntnisse der Physik - das Atom ist nicht unteilbar (wir heute wissen es durch die Atombomben) - löst sich die bisher als fest angesehene Materie zunehmend auf. Kandinski löst in der Folge seine Malerei auf in Farbflächen, entgrenzt zunehmend Form und Farbe und bildet Farbsymphonien. Er wird als Vater der Abstraktion gesehen. Max Ernst greift das Thema auch auf und erfindet mit der Oszillation, was als zeitlich wiederkehrende Schwankung in den Naturwissenschaften gebräuchlich ist, eine neue Technik - eine an einer Schnur hängenden Dose mit einem Loch, aus der die Farbe tropft. Sie wird bekannt erst mit den dripping paintings von Pollock, wo der Intuition und dem Zufall viel Raum gegeben wird.

Beckmann geht einen anderen Weg. Er wehrt sich gegen die aufkommende Abstraktion und sieht seine Malerei als Ausweitung der klassischen Kunst mit Raum, Farbe, mit Symbolik und Mythologie. Im ersten Weltkrieg dient er als Sanitäter, hat aber schon 1915 einen Nervenzusammenbruch. Die Schrecken des Krieges verarbeitet er im Zyklus "Hölle". Durch diese erneute Konfrontation mit dem Tod, beschäftigt er sich - wie so viele andere Künstler seit der Jahrhundertwende - mit Theosophie und gnostischen Schriften, mit dem Sinn des Daseins, mit Transzendenz und mit dem Welttheater, wie er es nennt. 1917 malt er Adam und Eva, wobei Eva ihre Brust reicht statt eines Apfels. Adam hebt die Hand als Abwehr gegen die Verführung, aber auch gegen die Erkenntnisfähigkeit des Guten und des Bösen, des zweischneidigen Schwertes des Richtigen und des Falschen, angedeutet durch die Schwertlilien im Hintergrund. Wie sehr Beckmanns eigene Befindlichkeit in seine Bilder hineinspielt, lässt sich leicht ablesen. Seine häusliche Situation spitzt sich zu. Die von ihm empfundene Enge mit Großmutter, Frau und Kind findet 1919 im Bild "Frauenbad" ihre Entsprechung.

Befreiung findet er als er 1924 Quappi, Mathilde Kaulbach, kennenlernt. Mit ihr reist er nach Italien, Nizza und Paris und vertieft seine Studien der altindischen, theosophischen Lehren.

Gnosis heißt [Er]-Kenntnis eines vollkommenen allumfassenden Gottes, wobei die Schöpfung, also auch der Mensch, dieses vollkommene Prinzip in sich trage. Dieses innewohnende geistige Prinzip, das man als Kern oder Samenkorn bezeichnen kann, muss bewusst gemacht werden. Verschiedenste Lehren gab es seit dem 2.Jahrhundert nach Christus, im Mittelalter weitergetragen durch die Alchemie, seit dem 19. Jahrhundert durch die Theosophie und Anthroposophie, die Rosenkreuzer, die Gralsbewegung, die Mormonen und die Freimaurer.

Die Theosophie, die "Göttliche Weisheit" fußt auf ähnlichen Anschauungen. So sagt die Merkaba-Mystik: "Gott ist in allem und alles ist in Gott". Wurzeln finden sich in der jüdischen Kabbala und der russischen Religionsphilosophie. Auch sie ist direkt auf Gott bezogen durch intuitive Schauung. Hildegard von Bingen und Jacob Böhme sind frühe Vertreter dieser visionären Schauung. Andere sind Paracelsus und Swedenborg; letzterer sieht die Welt als ein geordnetes Ganzes, dessen Zweck es sei, den Menschen zur Erwiderung der göttlichen Liebe und Weisheit zu führen. Es gibt in der Folge unterschiedliche Strömungen, die ab dem 18. Jahrhundert weniger prophetisch werden.

Eine andere Wurzel hat die Theosophie der Helena Blavatzky, die auf der indischen Religiosität und Spiritualität fußt. Sie umfasst die dort gelehrte Reinkarnation bis zum Verschmelzen mit dem "absoluten Bewusstsein". Mit Abstrichen gehört hierzu Rudolf Steiner mit seiner Anthroposophie. Zusammen mit den Erkenntnissen der modernen Physik mit der Auflösung der Materie führte die Rückbesinnung auf Gnosis und Theosophie zu völlig neuen Ansätzen in Malerei, Skulptur, Dichtung und Musik.

Die theosophischen Prinzipien der damaligen Theosophischen Gesellschaft lauteten:

  1. Universelle Bruderschaft ohne Unterschied von Rasse, Glaubensbekenntnis, Geschlecht, Kaste und Hautfarbe.

  2. Förderung vergleichender Studien der Weltreligionen, Philosophie und Naturwissenschaft.

  3. Erforschung bisher unentdeckter Naturgesetze und psychischer Kräfte des Menschen.

Mitten in diesen Strömungen befindet sich Beckmann. Er wird 1925 an die Städelschule in Frankfurt berufen. Er ist erfolgreich und berühmt, auch im Ausland. Das erste Triptychon entsteht mit dem Titel "Abfahrt" als Vorahnung zukünftiger Zeiten. Noch 1928 bekommt er den Reichsehrenpreis Deutscher Kunst mit einer Retrospektive in Mannheim. 1932 richtet ihm die Nationalgalerie in Berlin einen Beckmann-Saal ein, doch schon 1933 wird er durch die Nazis entlassen und bekommt Berufsverbot. Seine Werke werden 1937 in der Ausstellung "Entartete Kunst" in München gezeigt.

In dieser Zeit entstehen die in der Ausstellung nebeneinander hängenden Bilder "Geburt" und "Tod". Diese beiden Bilder von Beckmann machen das deutlich, was ich über die Jahre auch herausgefunden habe, ohne ihren Hintergrund in der Gnosis oder Theosophie zu kennen: Leben ist ewig! Gemeinhin glauben wir, dass das Leben mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Nach meinen Erfahrungen treten wir mit der Geburt in die physische Existenzform ein und verlassen den Körper im Tod wieder und legen ihn ab wie ein Kleidungsstück. Das, was uns wirklich ausmacht, lebt weiter.

Im Katalog bezeichnet Joachim Jäger die "Geburt" als Spiegel der nationalsozialistischen Gräueltaten und den "Tod" als irreales Schreckensszenario, wahrscheinlich durch die Beckmann typischen schwarzen Umrahmungen sämtlicher Formen, die die Bilder düster wirken lassen. Ich will trotzdem versuchen, ein etwas anderes Bild zu entwerfen.

Die "Geburt" findet zwar in einem sehr beengten Zirkuswagen statt, aber unter einem gelben Baldachin, der überwiegend im Schatten liegt und deshalb düster wirkt. Dafür ist das Bett mit einer strahlend gelben Decke bedeckt. Hinter dem Kopf der erschöpft zufriedenen Mutter stehen Blumen in blau und rot, ein Topf mit Blume steht auf dem Boden und eine grüne Topfpflanze lugt hinter der älteren Frau hervor, die das Neugeborene hält. Der Geburtshelfer trägt Gesichtszüge eines Mannes, der weiß, was er tut. Hinter ihm steht der Vater, während rechts ein jüngeres Kind die Waschschüssel ausleert. Links in der Ecke kauert ein Clown mit einer Trommel und schaut dem "Welttheater" zu.

Das Bild "Tod" ist zweigeteilt angelegt. Es zeigt einmal die physische, reale Welt und einmal die unsichtbare, die jenseitige Welt, in der alles auf dem Kopf steht. Vielleicht erinnern Sie sich als häufiger Besucher der Würth-Ausstellungen an die Henry Moore-Ausstellung, in der das große silberne Objekt von Anish Kapoor gezeigt wurde, eine große silberne Scheibe mit einem Wulst. In der geschliffenen Oberfläche konnte man sich wie in einem Spiegel sehen. Ging man langsam vor dem Objekt zurück, dann war man plötzlich auf dem Kopf stehend zu erkennen. Anish Kapoor folgt hier mit anderen Mitteln der gleichen Aussage wie Beckmann, das Jenseits, in dem wir uns irgendwann befinden werden, als auf dem Kopf stehend zu sehen. In der Zeitlosigkeit ist alles anders.

Betrachten wir zunächst die hiesige Realität. Die Tote liegt auf einem Bett. Die in heftigen Zacken ausschlagende Fieberkurve zeigt die Dramatik des Verlaufs und ist ans Bett angelehnt. Mit dem Rücken zum Betrachter steht der Tod selbst und bläst das Lebenslicht aus. Er steht auf sechs Füßen, zwei für die Vergangenheit, zwei für die Gegenwart und zwei für die Zukunft. Rechts reist die Tote auf einem Fisch in die Gegenwelt, ein Boot über den Styx wäre ein ähnliches Symbol. Links ruht sich eine Krankenschwester aus, hinter ihr der Pfleger. Sie können nichts mehr tun.

Auf dem Kopf stehend ist im Jenseits die himmlische Musik durch den Männerchor angedeutet. Sie haben 3 Gesichter in einem Kopf, was man als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen kann, als Zeitlosigkeit und damit ohne Zeit, also Ewigkeit. Das jüngste Gericht, die Bewertung der im Diesseits erfolgten Einstellungen und Taten, erscheint in einem Engelwesen mit Posaune. Zwischen beiden ist die Seele ohne Körper zu sehen, ein Vorläufer der Kopffüßler von Antes, nur hier mit einer anderen Bedeutung. Die Seele hat jetzt das göttliche dritte Auge, das ihr ermöglicht die göttliche Weisheit zu erfassen. Sie ist sich selbst bewusst, auch ohne Körper und ohne das physische Gehirn. Sie kann ihr Leben noch einmal in einem umfassenderen Kontext Revue passieren lassen und neu einordnen.

Dass es weitergehen könnte, macht Beckmann mit der Schlange neben dem Engelwesen deutlich. Sie ist das Symbol für Häutung, für Wiedergeburt, was auch für das Mischwesen daneben zutreffen könnte. Es ähnelt oben kopflos einem Gebückten oder Gehängten, hat aber den Kopf unten zwischen den Beinen, ein Symbol für die total andere Sichtweise in der Anderswelt. Ein Wesen dazwischen mit unzähligen grob angedeuteten Gesichtern könnte die vielen schon erlebten Leben darstellen, die in der Zeitlosigkeit nach wie vor als Gegenwart vorhanden sind und als Ratgeber fungieren. Wenn Sie einmal den Katalog umdrehen und das Bild betrachten, lassen sich die Figuren noch besser erkennen.

Soweit die beiden Bilder von 1937, die keineswegs ein Schreckensszenario darstellen. Und ich will es noch einmal betonen: Die diesseitige Welt ist eine Welt der Polaritäten, denn wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen. Nur sollte es nicht heißen Leben und Tod, sondern Geburt und Tod. Egal ob mit Wiedergeburt oder ohne: das Leben ist ewig.

Ich will hier noch Beckmanns Tagebucheintrag von 1938 anfügen, den ich bei Wikipedia gefunden habe, wie so viele meiner Informationen über Max Beckmann. Er schreibt:

"Worauf es mir in meiner Arbeit vor allem ankommt, ist die IDEALITÄT, die sich hinter der scheinbaren Realität befindet. Ich suche aus der gegebenen Gegenwart die Brücke zum UNSICHTBAREN - ähnlich wie ein berühmter Kabbalist es einmal gesagt hat:

Willst du das Unsichtbare fassen, dringe - so tief du kannst, ein - in das Sichtbare.

Es handelt sich für mich immer wieder darum, die Magie der Realität zu erfassen und diese Realität in Malerei zu übersetzen. - Das Unsichtbare sichtbar zu machen durch Realität! - Das mag vielleicht paradox klingen - es ist wirklich die Realität, die das eigentliche Mysterium des Daseins bildet!"

Soweit der Tagebucheintrag von 1938. Und dann malt Beckmann in Holland weitere acht Triptychen voller Magie und Symbolik, doch das ist eine andere Geschichte.

 


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